Kathedrale Cuenca

Von den unzähligen Bauwerken, welche die Handschrift von Bruder Johannes Stiehle tragen, ragt keines so heraus, wie die Kathedrale von Cuenca, eine der größten Kirchen auf dem südamerikanischen Kontinent. Ihr Baustil zeigt ein Gepräge eigener Art. Sie »gleicht nicht dem Ulmer Münster, sondern ist eine Mischung von Stilelementen aus Byzanz, der Romanik und Renaissance.« Ihr äußeres Erscheinungsbild ist überwältigend: Eine Fassade mit zwei Türmen über einem Bogenwerk; ein Längsschiff mit drei großen und drei kleinen Kuppeln, ein Presbyterium mit einem angebauten Wohnhaus. Innen eröffnet sich dem Besucher die ganze Welt des Sakralraums. Hauptschiff, zwei Seitenschiffe, das Presbyterium mit zwei Sakristeien, darüber jeweils ein Chorraum und der Hauptchor. Unter dem Kirchenraum gibt es eine Krypta, die als Grabstätte dient.

»Die Kathedrale ist 105 m lang und 43,50 m breit; die Höhe der Türme wird nach der Vollendung 65 m betragen (im Augenblick beträgt sie 41 m); die Hauptkuppel ist 53 m hoch, und ihr innerer Durchmesser beträgt 12 m. Man schätzt das Fassungsvermögen der Kathedrale auf 9000 Personen. Die Krypta ist 96 m lang, 12 in breit und 4,20 in hoch; sie hat ein Fassungsvermögen von etwa 3000 Personen. ... Der Bau hat als Fundament ein Mauerwerk aus Mörtel mit Kalk und Sand; die Wände sind aus Ziegeistein, vermischt mit vielen Elementen aus rosafarbenem Marmor; der Boden im Presbyterium und im Hauptschiff ist aus Marmor von Carrara, in den Seitenschiffen mit Fliesen belegt.«

Dem Bau der Kathedrale gingen lange Jahre der Sehnsucht, der Diskussion und der Reflexion voraus. Ein erster Hinweis auf einen möglichen Kathedralenbau findet sich in einem Schreiben Karls III. aus Araniuez vom 13. Juni 1779. Darin heißt es. »Mit päpstlicher Autorität und im Auftrag ihrer heiligsten Majestät beschließen und errichten wir die Kirche der besagten Stadt Cuenca oder die, die zu diesem Zwecke bestimmt oder gebaut wird. Die Kathedrale stehe unter der Schutzherrschaft und der Anbetung der Unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria, Mutter Gottes.« Es war der große Wunschtraum des Bischofs Estévez Toral, in Cuenca den Bau einer Kathedrale in Auftrag geben zu können. Seine diesbezügliche Anfrage nach Rom hatte Erfolg; am 3.November 1874 erreicht ein Schreiben des Papstes Pius IX. den Bischof von Cuenca, in welchem der Bau der Kathedrale ausdrücklich erlaubt und begrüßt wird. Die Redemptoristen von Cuenca bieten sogleich ihre Zusammenarbeit an, um das große Werk zu planen und zu bauen. Bischof Toral kann seinen Traum jedoch nicht verwirklichen; er stirbt 1883. Sein Nachfolger, Bischof Léon Garrido, gibt am 25. Oktober 1885 den Beginn des großen Vorhabens offiziell bekannt. »Ich wünsche mir eine Kathedrale, so groß wie mein Glaube.« Am 20. Februar 1888 kommen der Bischof von Cuenca, das Domkapitel und Vertreter der Redemptoristen» in folgenden Grundsatzfragen (überein), damit der Bau der Kathedrale fortgesetzt würde:

1. Der Redemptoristenorden übernimmt die Erstellung der Baupläne, nach denen die Kathedrale gebaut werden soll.

2. Die erwähnten Pläne sollen in zwei Monaten abgeschlossen sein und werden in das Eigentum der Kirche übergehen.

3. Bruder Johannes ... wird mit der Durchführung der Pläne beauftragt werden, wobei er die Bauarbeiten einmal pro Woche oder häufiger, sofern er es für nötig halte, besuche. ...

4. Ersteller der Pläne dürfe niemand anderer sein als Bruder Johannes, dieser wird einem anderen die notwendigen Anweisungen für alle inneren und äußeren Pläne geben, derart daß besagter Ausführer das Werk mit vollkommener Leichtigkeit ausführen kann, bis zu seiner Fertigstellung.

5. Das Domkapitel seinerseits verpflichtet sich an die Gemeinschaft der Redemptoristen für die erwähnten Arbeiten den Betrag von 500 einfachen Pesos pro Jahr zu zahlen. ...

6. Wenn durch irgendwelche Ereignisse die Arbeit an der Neuen Kathedrale eingestellt würde, werden die Zahlungen für die Zeitdauer der Arbeitsunterbrechung eingestellt. Besagte Unterbrechung hat keinen Einfluß auf den jetzigen Vertrag, der in voller Gültigkeit erhalten bleibt, als ob die Arbeiten an der neuen Baustelle begonnen würden.»

Bruder Johannes widmet dem Bau der Kathedrale die letzten 14 Jahre seines Lebens. Umfangreiche Pläne und Baubeschreibungen sind erforderlich. Ein ganzes Jahr arbeitet Bruder Johannes an den Detailplänen und verliert dabei fast das Augenlicht. Mehrmals muß er diese auf Drängen von Bischof Miguel abändern. Die Pläne zeichnet er mit einfacher Feder und Tinte; in ihrer Ausführung sind sie ein Kunstwerk.

Noch vor der Fertigstellung des endgültigen Plans leitet Bruder Johannes seit Oktober 1885 die Ausschachtungen für das Fundament. In seinem Weihnachtsbrief 1886 berichtet er seinem Bruder Chrisostomus von der feierlichen Grundsteinlegung: »Am 12. Dezember des Jahres war die große Feierlichkeit der Einsegnung des ersten Ecksteines, bei welcher Gelegenheit unser Hochwürdigster Bischof eine große Marmorplatte aufstellten und auf der Seite des Altars in dieser unterirdischen Kapelle einmauern ließ, welche mit einer Inschrift seinen und meinen Namen enthielten, zum ewigen Andenken als Urheber dieser Kathedrale.» Zu den Bauarbeiten vermerkt er. »In diesem Jahr wurde zuerst ein Teil der Fundamente gegraben und ein großer Kanal gemacht für die Ableitung des Wassers und der Feuchtigkeit,... und jetzt sind wir an der Aufführung der Mauern einer unterirdischen Kapelle, weiche zugleich als Fundamente der Kathedrale dienen wird.« Zur Frage, ob man ihm die Gesamtbauleitung der Kathedrale übertragen werde; äußert er sich, daß diese Frage »bis jetzt noch nicht entschieden ist, und es scheint, daß man mich in Rom dazu nicht zwingen will; bis jetzt habe ich die obere Leitung.«

Einiges an Werkzeugen und Materialien, die Bruder Johannes für den Bau der Kathedrale benötigt, muß aus Europa importiert werden. Don Carlos Ordoñez, der quasi als Geschäftsreisender regelmäßig nach Europa fährt, gibt Bruder Johannes eine Bestelliste, datiert vom 19. August 1887, mit auf den Weg. Danach soll dieser für die Kathedrale beschaffen: »Eine Kette aus galvanisiertem Eisen, zwanzig Meter lang, aus Stahl wäre noch besser; zwei bewegliche Laufräder aus Eisen, dreifaches Seil; ein halbes Dutzend kleinerer Wagen für schwere Lasten; zwei Winden, um schwere Lasten zu heben und zu bewegen; ... zweihundert Meter Schienen aus Stahl und zwei Ersatzlager (Zapfenlager); drei Zentner Eisenschrauben mit Schraubenmuttern und in einer Auswahl in den Längen von 25 bis 40 Zentimetern; zwei Zentner Holzschrauben in der Länge von sieben bis fünfzehn Zentimetern, in Auswahl; vier Stangen aus gutem Stahl, um Steine mit Schlägen brechen zu können. ... « Ein Schiff, das u.a. mit für den Kathedralenbau bestimmten Teilen beladen war, sinkt. Der Kapitän wird für den Verlust haftbar gemacht und muß Schadensersatz leisten. Als Geldknappheit den Fortgang der Bauarbeiten gefährden, verkauft Bischof Léon bischöflichen Landbesitz und verfügt im Oktober 1889, daß die durch Vakanz päpstlich finanzierter Stellen frei gewordenen Gelder dem Kathedralenbau zufließen sollten. Als Facharbeiter drohten, der besseren Einkünfte wegen nach Guayaquil zu ziehen, erhöht er die Löhne.

Im November 1890 berichtet Anton Stiehle aus Dächingen nach Ecuador vom Bau eines Zementwerkes in Ehingen/Donau und über den Einsatz von Zement im Bausektor allgemein. Dem Brief legt er ein Kalenderbild des nun fertig gestellten Ulmer Münsters bei. Bruder Johannes scheint an diesen Informationen brennend interessiert zu sein: »Ganz besonders bin ich Dir sehr erkenntlich für das Blatt mit der Zeichnung und Beschreibung vom Münster in Ulm... Denn, lieber Bruder, ich bin hier in Cuenca Direktor von einer neuen Kathedrale, welche in seinem Umfange dem auf diesem Blatte erwähnten Münster nicht viel nachstehen wird. Auch ich will Dir jetzt die Ansicht der Hauptpforte von unserer neuen Kathedrale schicken, welche ein Photografist vom Plane abgenommen hat. Ich bedaure, daß ich die Seitenansicht nicht habe, welche wegen ihrer drei erhöhten Kuppeln und großartigen Seitenpforte und zwei Reihen kleiner Thürme weit prachtvoller anzusehen ist. Ich selbst machte den Plan zu diesem großen Gebäude und bin auch jetzt ganz allein, um denselben auszuführen. Und zur Arbeit dieses großen Planes war ich hier ohne auch nur das geringste Buch der Architektur, noch das kleinste Heftchen zu haben, und auch keinen Menschen, der mir in etwas helfen konnte. Nur konnte ich mich eines Zeichnungsbuches bedienen, welches ich mir selbst gemacht habe. Wie nützlich ist es mir alsdann, eine Zeichnung oder Beschreibung von großen Kirchen zu erhalten. «

1891 hat Bruder Johannes die gesamte Bauleitung inne; seine Arbeit wird seitens des bischöflichen Ordinariats entlohnt. »Das ganze Werk ist in meine Hände gelegt ... und sie (Generalvikar, Kanonikus) sind mit mir auf das Beste zufrieden. Schon daraus könnt Ihr ihre Zufriedenheit sehen, wenn ich Euch schreibe, wie sie mich auf jegliche Weise zu belohnen suchen. Für den Plan der Kathedrale zu machen, hat mir der Hochw. Bischof und das Ehrw. Kapildo 1600 Mark versprochen, als ich ihnen aber denselben überreichte, gaben sie mir 6400 Mark, und seit ich die Leitung dieses Gebäudes übernommen habe, zahlen sie mir jeden Monat 160 Mark, ohne daß wir etwas von ihnen begehrten.« Die Beträge, die Bruder Johannes hier im Vergleich zur Landeswährung in Goldmark angibt, waren freilich nicht für ihn persönlich, sondern für die Ordensgemeinschaft bestimmt.

Die Neue Kathedrale wird der Jungfrau von der unbefleckten Empfängnis geweiht werden. Bruder Johannes plant daher die Kuppeln in blauer Farbe, als Symbol für den in blau gehaltenen Mantel Mariens. Um sich ein Bild darüber machen zu können, wie die Neue Kathedrale nach Fertigstellung aussehen wird, hatte der Bildhauer M. Figura unter Anleitung von Bruder Johannes ein Modell der Kathedrale gebaut.

Dieses Modell wird 1904, anläßlich einer Ausstellung zum 50. Jahrestag der Verkündigung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit gezeigt.

Als Bruder Stiehle 1899 stirbt, sind die Baulichkeiten längst nicht abgeschlossen. Der Kathedralenbau wird ein Werk von Generationen. In der Nachfolge von Bischof Léon sieht sich Bischof Manuel Maria Polit »Mit dem Problem der Kathedrale konfrontiert. Das Vorhaben scheint die schwachen wirtschaftlichen Möglichkeiten der Stadt und der Diözese zu überfordern; der Bischof entschließt sich, eine neue Kirche mit weniger großartigen Plänen zu konstruieren. Bei zwei Gelegenheiten lädt er Entscheidungsträger der Stadt ein, um ihnen sein Projekt zu erklären und sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Pläne zu ändern, um in kürzerer Zeit eine eigene Kathedrale zu besitzen.« Der Vorschlag des Bischofs findet jedoch keine Zustimmung; vielmehr sollte der Bau nach den Originalplänen des Bruder Johannes fortgesetzt werden. Sieht man von den intendierten und noch nicht gebauten Turmhelmen ab, dann währte die Bauzeit über mehrere Perioden 82 Jahre (1886-1968).

Zur Geschichte der Kathedrale gehören freilich auch Glanztage, die Bruder Johannes hat leider nicht erleben können. Am 13. November 1954 wird Msgr. Manuel Serrano Abad in der Neuen Kathedrale zum Bischof von Cuenca geweiht; Kardinal de la Torre und die Bischöfe Echevarria de Ambato und Comin de Mendéz zelebrieren den festlichen Gottesdienst. Am 3. November 1956 besuchen der Staatspräsident Dr. Ponce und seine Minister einen Festgottesdienst. Eine weitere Bischofsweihe findet 1959 statt; Nuntius Opilio Rossi und Bischof Serrano zelebrieren den Festgottesdienst. Die feierliche Einweihung der Kathedrale unter Beteiligung zahlreicher Bischöfe fand am 28. Mai 1967, anläßlich des IV. Nationalen Eucharistischen Kongresses, statt. Anläßlich seines Besuchs in Cuenca hielt Papst Johannes Paul II. am 31. Januar 1985 in der Kathedrale einen festlichen Gottesdienst. Für Bruder Johannes war es gewiß unvorstellbar, daß in späteren Jahren einmal ein Nachfolger auf dem Stuhl Petri nach Cuenca kommen und dort in der Neuen Kathedrale einen festlichen Gottesdienst halten würde.

Kritiker behaupten, daß die Türme der Kathedrale nicht fertiggebaut werden können, weil angeblich die von Bruder Stiehle ermittelte Statik fehlerhaft sei. Dessen ungeachtet verfolgt der derzeitige Dombaumeister, Architekt Gastón Rarnirez Salcedo das Ziel, die Türme bis 1992, zur 500-Jahrfeier der Evangelisierung in Lateinamerika, fertig zu stellen, auch wenn sie nicht die volle Höhe erhalten werden, wie sie einst Bruder Johannes in seinen Planzeichnungen entworfen hatte. Inzwischen liegen Gutachten vor, weiche die ausreichende Festigkeit der Fundamente für den Ausbau der Türme nachweisen. G. Ramírez machte den Vorschlag zur Vollendung der Türme anläßlich der feierlichen Enthüllung einer Gedenktafel für Bruder Johannes durch Erzbischof Msgr. Luis Alberto Luna Tabor am 12. Dezember 1986, an dem Tag, an weichem vor 100 Jahren die Grundsteinlegung vorgenommen wurde. An dieser Feierstunde nahmen ferner Vertreter des Stadtrates von Cuenca, der deutsche Honorarkonsul, Otto Schneewind, deutsche Mitbürger in Cuenca, P. Gerhard Heghmans SVD, P. Rektor Juan Abril und andere Ordensangehörige der Redemptoristen, teil. Die Gedenktafel ist an der Westfassade, unterhalb des Mittelbogens, angebracht und hat folgenden Wortlaut:

»Als Ehrung für Redemptoristenbruder Johann Baptista Stiehle, Konstrukteur und Erbauer dieser Kathedrale. Geboren am 1. 6. 1829 in Dächingen, Deutschland. Gestorben am 20. 1. 1899 in Cuenca, Ecuador. Zur Hundertjahrfeier der Grundsteinlegung. In Dankbarkeit die Stadt Cuenca, die Bundesrepublik Deutschland und die deutschen Bewohner. Cuenca 12.12.1986.«

Man darf gespannt sein, ob daraufhin künftige Reiseführer über den Abdruck eines Bildes der Kathedrale hinaus auch den Namen ihres Konstrukteurs nennen und vielleicht sogar einige würdigende und erläuternde Worte über ihn verlieren. Bislang ist hier Fehlanzeige.