Bruder Johannes

Von einer unscheinbaren Persönlichkeit ist die Rede: Johannes Stiehle. 1829 in Dächingen/Württemberg geboren und dort aufgewachsen, erlernte er im Schwäbischen das Schreiner- und Schmiedehandwerk. 1850 wußte er sich berufen, in die Gemeinschaft der Redemptoristen einzutreten. Als Novize und als Ordensangehöriger mit dem Namen Bruder Johannes Baptista Stiehle wirkte er über zwanzig Jahre im Elsaß/Frankreich. Nachdem er infolge der Eroberung des Elsaß durch die Preußen 1871 vertrieben wurde, sandten ihn seine Oberen 1873 nach Ecuador. Als Architekt, Baumeister und Holzschnitzer erwarb er sich großes Ansehen und war bei kirchlichen und staatlichen Stellen viel gefragt. Sein größtes Werk wurde die Kathedrale zu Cuenca.  Das Leben von Bruder Johannes war durchdrungen von Schlichtheit und Frömmigkeit. Mehrfach war er von schweren Krankheiten gezeichnet; im Vertrauen auf den Herrn und auf die Mutter von der immerwährenden Hilfe fand er Hoffnung und Kraft, die ihm gestellten Aufgaben zu bewältigen. 1899 verstarb er in Cuenca.

Während Bruder Johannes in Ecuador im Gedächtnis blieb, versanken in Europa sein Leben und Werk in das Dunkel der Vergangenheit. Im Elsaß hatte man seinen Namen bald ganz vergessen; in Deutschland wußten nur noch wenige von seinen großen Taten und vorbildlichen Lebensweise.   Licht in dieses Dunkel brachte nun vor allem die Durchsicht von über 60 noch erhaltenen Briefen des Bruder Johannes, die er aus dem Elsaß und aus Ecuador regelmäßig an Freunde und Verwandte schrieb. Die Briefe enthalten Religiöses und Weltliches zugleich und geben den Blick frei für Geisteshaltungen und Zeitgeschichtliches in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Interessantes findet sich über die Lage Ecuadors zu seiner Zeit: Bruder Johannes schreibt von den Revolutionswirren, vom Verhältnis Staat-Kirche sowie vom wirtschaftlichen und technischen Auf- und Ausbau des Landes; er gibt u.a. auch Erlebnisschilderungen über schwere Erdbeben und Vulkanausbrüche. Bei seinen Angehörigen haben diese Briefe Ehrfurcht und Achtung geweckt. Kaum jemand wagte es, einen Brief von Bruder Johannes wegzuwerfen; unabhängig voneinander haben die verschiedenen Empfänger die zeitlose Bedeutung dieser Briefe erkannt und diese an Kinder und Kindeskinder zur Aufbewahrung weitergegeben. So ist es verständlich, daß über 60 Briefe von Bruder Johannes heute noch erhalten sind. Auch in unserer Familie wurden Briefe von Bruder Johannes an Generationen weitergegeben. Wenige Tage vor ihrem Tode, am 17. 4. 1980, übergab mir meine Mutter mehrere Briefe und den im Todesjahr des Johannes datierten Druck der brieflichen Mitteilungen von P. A. Kaiser. Beides hatte sie wie einen kostbaren Schatz bis zu ihrem Lebensende behütet und nun mich gebeten: »Vergeßt Bruder Johannes nicht und betet zu ihm.«

Die Druckerei Feger, die 1899 die Mitteilungen P. A. Kaisers als Büchlein druckte, ist noch immer im Besitz der gleichen Familie. Dem Lokalverleger Veit Feger, dem ich das Druckwerk aus seinem Hause zeigte und vom Vermächtnis meiner Mutter erzählte, gelang es, Verbindung nach Cuenca/Ecuador aufzunehmen. Der Rektor des Redemptoristenklosters in Cuenca, P. J. Abril, legte seinem Antwortschreiben Bilder von Bauwerken des Bruder Johannes bei. Erstmals konnte man nun im Heimatort von Bruder Stiehle Werke seiner Schaffenskraft, insbesondere die Neue Kathedrale von Cuenca, auf Bildern bestaunen. Informationsfahrten ins Elsaß und Nachforschungen bei Verwandten folgten. An Weihnachten 1984 ergab sich für mich überraschend die Möglichkeit, Cuenca zu besuchen und Bauwerke von Bruder Johannes zu sehen.

Es entstanden herzliche und freundschaftliche Beziehungen mit Menschen aus Cuenca. 1985 gelang es, Näheres über Arbeiten von Bruder Johannes in Lima/Peru und in Buga/Kolumbien ausfindig zu machen; Ostern 1986 folgte ein weiterer Besuch in Cuenca/Ecuador; im Februar 1988 konnte die auf Bruder Johannes zurückgehende Kirche in Cauquenes/Chile aufgefunden werden. Das nun Vorhandene fügt sich zu einem Ganzen. An der Aufbereitung zu Leben und Werk des Bruder Johannes Baptista Stiehle haben viele direkt und indirekt mitgewirkt durch Aufbewahren von Briefen des Bruder Johannes über Generationen hinweg, durch Übersetzung von lateinischen, spanischen und französischen Texten, durch Aufspüren entsprechender Lokalitäten in Frankreich (Teterchen, Mulhouse-Riedesheim) und in Lateinamerika (Ecuador, Peru, Kolumbien und Chile), durch Hinweise verschiedenster Art, durch kontinuierliche interessante und aktuelle Berichterstattung über Beginn und Fortgang der Nachforschungen zum Lebenswerk von Bruder Johannes in der Schwäbischen Zeitung bis hin zu ersten Veröffentlichungen von Briefauszügen in genannter Tagespresse, durch vielseitige finanzielle und ideelle Unterstützungen.

Letzte Ermutigungen zur Realisierung des Vorhabens einer Veröffentlichung zu Bruder Johannes erhielten die Initiatoren durch die wohlwollende Aufnahme dieses Anliegens seitens der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Text von Franz Holzmann