Was seinem Leben Kraft und Sinn gab

1. Verbundenheit mit Eltern und Geschwistern

Die fortwährende Verbundenheit von Bruder Johannes mit seinem Elternhaus, seinen Geschwistern und Freunden zeigt sich in vielen Briefen. Darin geht es nicht nur um belanglose Informationen zu Wohl- oder Unwohlbefinden, vielmehr berät er die Familienangehörigen auch in deren Alltagssorgen und Nöten, spendet Trost bei Schicksalsschlägen, ordnet Nachlaßangelegenheiten und gibt Auskunft zu religiösen Fragen.

Drei Tage vor der Abreise nach Frankreich schreibt er einen Abschiedsbrief an Eltern, Geschwister und Freunde. Darin begründet er den Schritt zu seinem Klostereintritt und faßt den Schmerz des Abschieds in Reime. »Es kommt der Tag der Leiden,/ wo mir Vater und Mutter reichen die Hand,/ wo ich werd von Schwester und Bruder scheiden/ und verlassen Freund und Vaterland.... Adje theure Eltern/ Adje, vergißt mein nicht./ Von Euch muß ich jetzt scheiden,/ weil es Gottes Wille ist.» Für Johannes ist es zu diesem Zeitpunkt völlig offen, ob überhaupt und wann wieder einmal ein Besuch in der Heimat möglich sein wird. Tatsächlich kommt Johannes in seiner fast fünfzigjährigen Ordenszugehörigkeit nur noch ein einziges Mal in sein Heimatdorf und sein elterliches Haus zurück. Siebzehn Jahre nach seinem Abschied - die Eltern sind längst verstorben - ist er hocherfreut und dankbar, alle seine Angehörigen in guter Stimmung anzutreffen und «unter den Unsrigen so viel Glauben ... und so viele gute und schon herangewachsene Kinder zu finden». Die Geschwister ermahnt er, weiterhin so zu leben, daß er sie alle in der Ewigkeit wiedersehen wird. Diese bitten ihn, ihnen etwas über Ablässe zu schreiben. Der Bitte kommt er gerne nach und schreibt einen «ausführlichen Brief» von 117 Seiten. Form und Inhalt entsprechen weniger einem persönlichen Brief, eher einem Katechismusauszug, einer theologischen Abhandlung über Ablässe und Gebete. Bruder Johannes gibt darin einen Überblick über gebräuchliche und weniger gebräuchlich Ablässe; ausführlich geht er dabei auch auf das Rosenkranzgebet ein.

Bruder Johannes bespricht brieflich Nachlaßangelegenheiten. Das ihm rechtmäßig zustehende Erbe ist ihm nicht gleichgültig. Weder will er es für sich und damit für die Ordensgemeinschaft reservieren, noch will er, daß sein Erbe gleichmäßig allen anderen Geschwistern zugeteilt wird. Manche Geschwister mögen schon mit einem zusätzlichen Anteil gerechnet haben, als Bruder Johannes schreibt. »Es ist mein ausdrücklicher Wille, daß der Anteil (nämlich jene 250 fl und 300 fl; fl: Florentiner Gulden, d. Verf.), der mir rechtlicherweise zufällt, ganz und zwar zur freien Verfügung und zum unveräußerlichen Nutzen in den Händen meiner lieben Eltern sei und bleibe; und zwar so, daß sie mit meinem Anteil zu ihrem Vorteile schalten und walten können, wie es ihnen beliebt. Meine Eltern sollen, soweit es in meinen Kräften steht, ganz sorgenfrei unbekümmert in ihren alten Tagen leben.« Nicht einmal über Restbeträge aus seinem Erbe möchte er den Eigentumsanspruch aufgeben und nennt dafür folgenden Grund: »(Wenn ich) auf den letzten Kreuzer noch Anspruch machen will, liebe Eltern, (so deshalb,) weil ich mit dem noch etwa vorhandenen vielleicht einem meiner Geschwister noch später aus der Bedrängnis helfen könnte.« Sein Handeln beunruhigt offenbar seine Geschwister und erzeugt Streit. Eindringlich bittet er seine Eltern, »den Geschwistern zu sagen, sie möchten den Frieden nicht stören um einiger lumpiger Kreuzer willen«. Rückblickend erscheint die Vorgehensweise von Bruder Johannes klug und sozial gerecht. Als 1864 der Vater stirbt, wird das Erbe wieder frei. Nun überläßt er einen Teil seiner Nichte Barbara, die den alten und kranken Vater lange Zeit pflegte, den anderen Teil erhält seine unglückliche Schwester Mariana.

In Situationen der Trauer, Verlassenheit und Niedergeschlagebheit findet Bruder Johannes aus der Kraft des Glaubens tröstende und hoffnungsfrohe Worte. Seiner todkranken Mutter schreibt er 1859. »Was soll ich aber Euch noch schreiben, liebe Mutter: denn Euch zu trösten und zu stärken überlasse ich der schmerzhaften Mutter unter dem Kreuze, welche unter so vielen Schmerzen ihren geliebten Sohn so großmütig hingeopfert hat. Bleibet bei ihr auf dem Kalvarienberge und leidet mit ihr bis zum Ende, und so werden Sie dann auch das Glück haben unter ihrem Schutze zu sein.... Wenn ich wünschen würde, die Grenzen Württembergs noch einmal zu betreten, so wäre es nur, um Euch um Verzeihung zu bitten, und um meine früher begangenen Fehler wieder gut zu machen. Allein, was ich selbst nicht tun kann, das möge dieser Brief ersetzen.«

Seine kranke Schwester Gertrud tröstet er mit den Worten: «Nehme alles mit Geduld aus den Händen Deines Gottes und bleibe ihnen treu bis in den Tod.» Den schwersten Schicksalschlag mußte wohl seine Schwester Mariana ertragen. Mit 26 Jahren trat sie als Novizin in ein Kloster im Elsaß ein. Als sie im Noviziat schwer erkrankte, wurde sie nicht endgültig in die Klostergemeinschaft aufgenommen, sondern mußte das Kloster wieder verlassen. Aus Rücksicht auf die Schmach ihrer Eltern kehrt sie nicht in ihre Heimat zurück; in ihrem Schmerz wendet sie sich an Bruder Johannes. In einem ergreifenden Brief tröstet er seine unglückliche Schwester Mariana.

Die Berichte über Hungersnot und schwere Krankheiten in der Heimat machen Bruder Johannes betroffen. Er antwortet mit Beschreibungen von existentiellen Notsituationen in seiner unmittelbaren Umgebung: Hunger, Krankheit, Vertreibung, Krieg, Revolution, Naturkatastrophen."' Zum Trost und als Hoffnung für andere schildert er eigene Erfahrungen von Lebensbedrohung und Rettung aus der akuten Gefahr. Sein Rat: »Habt Vertrauen auf Gott und seid standhaft im Guten und so werdet ihr nichts zu fürchten haben.« Die Geschwister erinnert er daran, den guten Eltern dankbar zu sein, sie nicht zu vergessen, ihrer in Gebeten und heiligen Messen zu gedenken. Er fordert sie auf, sich auf einen guten Tod vorzubereiten.

Angesichts inner- und außerkirchlicher Diskussionen um die Stellung des Papsttums ermahnt Bruder Johannes seine Familie eindringlich, »treu zum Papst zu stehen, der in großer Bedrängnis ist«. Als Revolution und Unruhen das Verbleiben der Redemptoristen in Cuenca unsicher machen, beruhigt er seine Verwandten, sich seinetwegen keine Sorgen zu machen, weil er wisse, daß Gott für ihn schon wieder einen anderen Platz bereit halten werde.

Die briefliche Verbindung mit den Geschwistern hält er bis zu seinem Tode aufrecht. Das letzte Schreiben von Bruder Johannes ist wahrscheinlich sein Brief vom 4. 12. 1897 an seinen Bruder Chrisostomus; später geschriebene Briefe von Bruder Johannes sind bislang nicht bekannt. Seine Altersschwäche, sein zunehmend beunruhigender Krankheitszustand und seine nachlassende Sehkraft könnten Gründe dafür sein, daß er zum Weihnachtsfest 1898 nicht mehr schreibt. Wie P. Kaiser (Februar 1899) mitteilt, ist es der ausdrückliche Wille von Bruder Johannes, daß seine Familie nach seinem Tod informiert wird. Nach P. Kaiser hat Bruder Johannes noch auf dem Totenbett gesagt: »Mein Vater, um eine Gnade bitte ich dich noch: nach meinem Tode mögest du, ich bitte dich inständig, an meinen Bruder Chrisostomus einen Brief schreiben und ihm mitteilen, daß ich aller meiner Anverwandten im Himmel eingedenk sein werde. für alle werde ich im Himmel flehen, daß sie ihre Seele retten. Dies allein frommt und liegt mir im Herzen.«

2. Missionarisches Anliegen

Bruder Johannes trat der Gemeinschaft eines Missionsordens bei. Die traditionelle Volksmission der Redemptoristen hatte ihn in seiner Jugendzeit tief beeindruckt; die Teilnahme an »fremden Missionen« war sein großer Wunsch. Im Juni 1880 schreibt er seiner Schwester Wallburga im Kontext von Vertreibung und Verbannung, die auch ihn traf: »Alles dieses hat nur beigetragen, das innigste Verlangen meines Herzens zu erfüllen, welches mir Gott schon in meiner Jugend gegeben hatte, nämlich Theil zu nehmen an den fremden Missionen. Und daher kann ich auch in aller Wahrheit sagen, daß ich nirgends so zufrieden war, wie hier in Cuenca, und bin hier wie in meiner eigenen Heimat.« Nur zu verständlich, daß es ihm ein Anliegen ist, seinen Adressaten immer wieder auch Einblicke in den aktuellen Stand der Missionen zu geben. Dabei gibt er nicht nur Erfolgsmeldungen.

Als er beispielsweise aus Teterchen den Sittenverfall und den Niedergang des Glaubens in Frankreich beklagt, belegt er diese seine Beobachtung u.a. mit der Tatsache, daß zwar »wieder eine neue Mission eröffnet wurde«, daß sie jedoch »nicht einen Menschen in die Kirche bringen (konnte) und die Missionäre ... ganz unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen (mußten).«

Auch in Lateinamerika verlaufen die Missionen nicht ohne Schwierigkeiten. »Als vor kurzem unsere Patres im Innern von Peru in einem großen Flecken eine Mission anfingen, fanden sie zwar eine halbzerfallene Kirche, aber nicht das Nothwendigste, um die heilige Messe zu lesen. Mit einem kleinen Klöcklein ließen sie die Leute rufen, aber leider niemand kam. Die Patres gingen alsdann selbst in die Häuser, um die Leute aufzusuchen; doch alles floh, die Kinder fingen an zu schreien und flohen und die Älteren verkrochen sich, wo sie konnten.« Im Mai 1878 hat er überhaupt nichts zu Missionen schreiben können, »weil in dieser ganzen Zeit der Revolution keine mehr gehalten wurden«.

Meistens kann er jedoch vom Fortschritt der Missionen berichten. Zugleich stellt er einen weit größeren Bedarf an Mission fest und bedauert den großen Priestermangel. Von den noch nicht zivilisierten Bewohnern der Urwaldgebiete, die er in der damals üblichen, aber für die Ohren heute abfällig klingenden Sprechweise »Wilde« bezeichnet, weiß er zu berichten, daß sie »mehr und mehr das Verlangen (zeigen), katholische Priester zu haben.« Zutiefst bedauert er, daß die Missionen »bis jetzt ... noch nicht zu ihnen gelangt (sind). ... Würde es doch Gott gefallen, mehrere Arbeiter in seinen Weinberg zu senden, damit er auch diesen armseligen, unglücklichen Seelen das Licht des Glaubens gebracht würde, auf daß sie der ewigen Herrlichkeit theilhaftig würden. Doch meine lieben Geschwister, es sind nicht nur die Wilden, welche die Missionen sehr bedürfen, sondern ... viele tausende auf dem Lande zerstreute ... , die zwar getauft sind, aber nichts wissen weder von Gott, noch von der Religion und in einer solchen Unwissenheit dahinieben.«

Bruder Johannes weiß zu berichten, daß der Wunsch nach Missionen keineswegs auf Ecuador begrenzt ist. »In verschiedenen Republiken begehrt man Missionen, bietet man Häuser zu neuen Stiftungen an, aber leider fehlt die Zahl der Patres, um selben alle genüge leisten zu können. ... Unsere Patres, so gering an der Zahl, haben in diesem vergangenem Jahr neue Klöster gegründet: Eines in Buga (Republik Columbia), eines in Lima (Republik Peru) und auch in Buenos Aires. Somit sind die Patres Redentoristas in diesem ganzen Südamerika verteilt, denn wie ihr schon wißt, haben wir auch ein Kloster in Santiago (Chile).«... Summarisch hält er 1885 fest. «Die Missionen gehen in diesem ganzen Amerika recht gut, überall werden Missionäre, Klöster und Missionen begehrt, und überall, wo Missionen gehalten werden, ist der Zudrang von Menschen außerordentlich, überall wunderbare Bekehrungen, wunderbare Ereignisse.»

Bleibt zu fragen, ob Bruder Johannes lediglich »Beobachter« dieser umfangreichen Missionen war, ob er passiv daran teilnahm oder ob er sich selbst daran aktiv beteiligte. Nach P. H.-M. Hamez wohnte Bruder Johannes den Missionen bei und, »soweit er dabei nützlich sein konnte, tat er dies.« Als Ordensangehöriger im Laienstand dürfte er in der Verkündigung des Wortes wohl kaum eigensträndig aktiv tätig gewesen sein. Demgegenüber erscheint die Mithilfe in der Katechese, wann immer ihm dies möglich war, nur folgerichtig. Seine Fähigkeiten, religiöse Inhalte zu reflektieren und zu vermitteln, hatte er durch sein Lehrschreiben über Ablässe und Gebete längst zu genüge unter Beweis gestellt.

Wie dem auch sei, Bruder Johannes pflegte in der Regel in anderen Formen seinen Teil für den Fortschritt der Mission beizutragen. Seine Lebensweise, seine Offenheit für jedermann der bei ihm Rat suchte, seine Art, wie er anderen begegnete, seine bis zur Erschöpfung unentgeltlich geleisteten Dienste, sein unverrückbares Vertrauen in Gott, machen deutlich, daß bei ihm Glaube und Leben in Einklang stehen. P. A. Kaiser, der etwa sechs Jahre mit Bruder Johannes zusammen lebte, sieht ihn gar »als Heiligen«, als »einen echten Sohn des heiligen Alphonsus, einen vollkommenen Nachfolger des allerheiligsten Erlösers.« Zeugnis seines missionarischen Handelns sind vor allem seine Werke. Zurecht nennt der Architekt G. Ramírez die Neue Kathedrale von Cuenca »ein Symbol des Glaubens an Christus«. Ihre gewaltige Größe, die Schönheit der Formen im Innern und von außen, die harmonisch eingebunden Kuppeln, die in Kreuzform angeordneten Kirchenschiffe und das Sichgeborgen-Wissen im Innenraum, machen auch dem heutigen Besucher und Gläubigen die Wirklichkeit Gottes erfahrbar. Von der auf Bruder Johannes zurückgehenden Klosteranlage und Kirche in Buga/Kolumbien formuliert P. E. Echeverri, daß das prächtige Bauwerk ... dazu bestimmt ist, nicht die vergänglichen Größen des Menschen, sondern die unendliche Majestät unseres Gottes zu beherbergen.« Der gläubige Besucher erfährt in den zahlreichen religiösen Bauwerken, die Bruder Johannes plante und baute, Geborgenheit, Vertrauen und die Nähe Gottes. Auch die profanen und sozialen Bauten sind nicht einfachhin Zweckbauten. Sie machen kirchlich-soziales und missionarisches Handeln erst möglich. So gesehen geben seine Bauwerke noch heute Zeugnis von der Liebe Gottes.

Wer im Elsaß oder in Lateinamerika vor Werken von Bruder Stiehle steht und dessen Namen nennt, stößt vielfach auf Schweigen und Nichtwissen. Vieles, was in den Briefen lebt, ist an den Wirkungsstätten des Bruder Stiehle in Vergessenheit geraten.

Im Glaubens- und Lebensverständnis des Bruder Stiehle dürfte dies auch relativ belanglos sein. In den Werken, die seine Handschrift tragen, tritt er als Person, als Architekt oder als Kunstschnitzer, ganz in den Hintergrund. Seine Werke sind nicht für ihn zum Ruhm und Erfolg gedacht, vielmehr stellen sie Christus, den Erlöser, in den Vordergrund. Durch die Werke des Bruder Johannes finden Menschen den Weg zu Gott und erfahren die Nähe Gottes - damals wie heute. Bruder Johannes bezeugt den Glauben an Christus; er steht ganz in der missionarischen Tradition derer, von denen Papst Leo XIII. zum Abschluß der 400-Jahrfeier der Christianisierung Lateinamerikas im Juli 1892 schreibt, daß ihre Verkündigung des Glaubens, eine unermeßliche Anzahl »zu den Hoffnungen des ewigen Lebens« gelangen ließen. In der Tat, Bruder Johannes hat das missionarische Anliegen des Redemptoristenordens eingelöst, weniger durch Worte, mehr durch sein Tun, näherhin durch Architektur, durch Holzarbeiten, durch religiöse Kunstwerke.