#36 - Brief vom 06.06.1880 Cuenca
Meine vielgeliebteste Schwester!
Dein Schreiben habe ich erhalten und mit Freuden darin gesehen, daß es Dir in Ehingen noch immer gut geht, wo Du daselbst so viele Gelegenheit hast, an das zu denken, wie Du Deine Seele retten kannst und unter all Deinen Geschwistern einzig das Glück hast, so ruhig Deine alten Tage im Dienste Gottes und dem Gebete widmen zu können.
Denn, vielgeliebteste Schwester, endlich können wir in diesem Leben kein größeres Glück suchen, als gut zu sterben, um Gott dadurch ewig zu besitzen. Und wer könnte dieses besser begreifen und glauben als gerade Du, in dem Du ja so viele Fälle gesehen hast in Deiner eigenen Familie.
Wie sehr freut es mich, in Deinem Briefe zu sehen, daß Du nun Mitglied des dritten Ordens geworden bist. Allerdings ist es wahr, daß man auch seine Seele retten kann, ohne Mitglied des dritten Ordens zu sein; aber auch kann man nicht zweifeln, daß tausende und tausende auf ewig verloren gingen, weil sie dieses große Mittel, seine Seele zu retten, nicht angewendet haben, und wie viele tausende und abermal tausende sind in großen Genuß der Herrlichkeit Gottes, im Himmel auf ewig Gott lobend und preisend und Dank sagend für diese große Gnade, welche schon längst in der Hölle brennen würden, wenn sie nicht in den dritten Orden gegangen wären.
Und gewiß nenne ich nicht ohne Ursache den dritten Orden "das große Mittel, seine Seele zu retten"; welcher gewiß so zu nennen verdient, schon wegen seiner heiligen und weisen Regeln. Denn, vielgeliebte Schwester, diese dem hl. Franziskus vom hl. Geiste eingegebenen und vom hl. apostolischen Stuhl aprobierten Regeln sind nicht nur eine mächtige Schutzmauer gegen die Sünde, sondern auch eine heilige Anleitung zu einem frommen Leben. Durch diese hl. Regeln weiß ein Mitglied auch immer, daß, wenn sie selbe befolgt, es immer gerade das tut, was Gott wohlgefällig ist, und muß daher auch immer die Worte im Munde haben: "Zuerst meine Regel, als dann andere Frömmigkeiten". Diese heiligen Regeln nötigen den unbeständigen Menschen, beständig zu sein im Dienste Gottes. Denn wer weiß nicht, daß, wenn der Mensch nicht ewas Gewisses und Beständiges hat, er in seinen Vorsätzen gleichsam wie vom Winde hin und her getrieben wird und leider nur zu oft zu Grunde geht.
Aber auch ist der dritte Orden nicht weniger das große Mittel, seine Seele zu retten durch die vielen besonderen Gnaden, die Gott einem guten Mitglied verleiht, sowie auch durch das gegenseitige Gebet der Mitglieder und auch der ganz besondere Schutz des heiligen seraphischen Patriarchen, des hl. Franziskus, welcher bei Gott so viel vermag und auch im Himmel nicht aufhört, sie als seine Kinder anzuerkennen.
Wir in unserem Kloster haben den Verein der heiligen Familie, welcher hier sehr viel Gutes macht. Die Mitglieder sind sehr zahlreich, gegenwärtig zählt er hier in Cuenca 1500 männlichen und 3500 des weiblichen Geschlechtes. Ihre Regel ist bei weitem nicht so streng wie jene des dritten Ordens, dessen ungeachtet aber hat die hl. Familie durch ihr gutes Beispiel eine gänzliche Umänderung und Sittenverbesserung in der ganzen Stadt hervorgebracht. Schon dadurch ist auch der Zulauf zu unserer Kirche sehr groß und dies besonders an Sonn- und Festtagen, wo noch die Leute vom Lande gleichsam prozessionsweise herbeiströmen. Wir haben in unserer Kirche an den Sonntagen bis 3 mal Predigt. Und was den Zulauf in unserer Kirche noch vermehrt ist das Gnadenbild unserer lieben Frau von der immerwährenden Hilfe. Wie sich aber unsere liebe Mutter von der immerwährenden Hilfe in all unseren Kirchen in der ganzen Welt so wundertätig zeigt, so ist sie es auch nicht weniger hier.
Ich würde nicht enden, wenn ich all die besonderen Gnadenbezeugungen aufzählen wollte, welche sich hier zugetragen haben. Bald sind es wunderbare Bekehrungen verstockter Sünder, bald wunderbare Hilfe in einer Not oder Gefahr, bald Versöhnung verbitterter Feinde, bald Zurückgebung gestohlenen Gutes, und wie viele Heilungen der verschiedensten Krankheiten. Ich will Euch nur eine solche Heilung erzählen, welche in den letzten Tagen hier in Cuenca geschehen ist. Es wollte nämlich eine Frau von hier nach Guayaquil (eine am Meer liegende Stadt) abreisen, welche sich von einer Magd begleiten ließ. Nicht weit von hier, von Cuenca, fiel diese Magd von ihrem Reittier und zerbrach sich die Hirnschale so, daß sie nach Cuenca zurückgetragen, die Ärzte ihr Stücke auch von der Hirnschale heraus machten und erklärten, daß mit ihr keine Kur mehr vorzunehmen sei. Die gute Hausfrau nahm alsdann ein Bild von unserer lieben Frau von der immerwährenden Hilfe und klebte solches auf den Kopf der Sterbenden, worauf sogleich eine solche wunderbare Besserung eintrat, daß die Ärzte erklärten, daß diese Heilung nur einem Wunder zugeschrieben werden könne.
Warum aber, teuerste Schwester, sollen nicht auch wir eine große Andacht und ein großes Vertrauen zu dieser guten Mutter haben und in all unseren Nöten und Anliegen zu ihr unsere Zuflucht nehmen. Sie ist ja die Ausspenderin aller Gnaden; wer daher auch ihr wahrer Verehrer ist, wird niemals zugrunde gehen. Und mag der Mensch auch noch so viele Fehler und Sünden haben, wer zu ihr seine Zuflucht nimmt, wird nicht von ihr verstoßen werden.
Keinen Tag lasse ich vorüber gehen, an welchem ich nicht Euch alle dieser guten Mutter empfehle; und nicht nur Euch, die Ihr meine Geschwister seid, sondern auch alle, die sich meinem Gebete empfehlen oder auch für mich beten.
Und wenn ich dieses von jemand sagen kann, so ist es gewiß meine teuerste Base Barbara Stiehle und Sophia Grab und mein alter teurer Freund Mathias Rehm, sowie auch alle meine Freunde in Ehingen, Berg, Kirchbierlingen, Altbierlingen und Öpfingen. Möge Gott mein heißes Verlangen erfüllen, für welches ich ihn so viel flehe, daß keines von uns allen verloren gehe und wir uns einstens alle im Himmel wieder finden.
Lebet wohl, ich grüße Euch alle vielmal, ganz besonders Dich, teuerste Schwester Walburga, teuerste Base Barbara Stiehle, Sophia Grab und Eure guten Schwestern Franziska und Gertraut, Mathias Rehm und Eure ganze Familie und Krezenze Unseld und auch ganz besonders Fr. Müller in Ehingen.
Euch allen dem hl. Herzen Jesu und Maria empfehlend bleibe ich Euer ergebenster Brunder, Vetter und Freund
Johannes Stiehle